Maurische Landschildkröte, Testudo graeca, – © Hans-Jürgen Bidmon

Vamberger - 2011 - 01

Vamberger, M., C. Corti, H. Stuckas & U. Fritz (2011): Is the imperilled spur-thighed tortoise (Testudo graeca) native in Sardinia? Implications from population genetics and for conservation. – Amphibia-Reptilia 32(1): 9-25.

Ist die gefährdete Maurische Landschildkröte (Testudo graeca) auf Sardinien einheimisch? – Erkenntnisse von populationsgenetischen Studien und Anmerkungen zu deren Erhaltung.

DOI: 10.1163/017353710X541869 ➚

Maurische Landschildkröte, Testudo graeca, – © Hans-Jürgen Bidmon
Maurische Landschildkröte,
Testudo graeca,
© Hans-Jürgen Bidmon

Unter Verwendung der mtDNS-Sequenzen und 12 Mikrosatelliten-Loci verglichen wir Testudo-graeca-Populationen von Sardinien und Nordafrika. Dass das genetische Muster nahezu keinen Unterschied aufweist, außerdem die Populationen auf Sardinien eine Reduktion der genetischen Variation aufweisen, passt zu einer Einfuhr der Schildkröten aus einer heute zu Tunesien und dem angrenzenden Algerien gerechneten Region während vorgeschichtlicher Zeit oder auch später. Im Hinblick auf die kürzlich publizierte Empfehlung, alle auf dem italienischen Festland vorkommenden nicht-einheimischen T. graeca auszuräumen, reviewen wir neuere Studien zu archäologischen und fossilen Nachweisen, zur Phylogeographie und Populationsgenetik für die drei weiteren Schildkrötenarten Sardiniens (Emys orbicularis, T. hermanni, T. marginata). Aufgrund dieser Daten schließen wir, dass alle vier auf Sardinien vorkommenden Spezies nicht-einheimisch sind. Trotzdem sollten sie nach EU-Recht (VO 338/97 über den Schutz von Exemplaren wildlebender Tier und Pflanzenarten sowie der Flora, Fauna, Habitatrichtlinie Anhang IV, Art. 12) geschützt werden und als eine Sicherheit für die deutlich rückläufigen Festlandspopulationen erhalten bleiben. Zudem repräsentieren diese Populationen ein wichtiges durch Menschen gestaltetes Naturgut im Mediterranraum.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Eine schöne Arbeit, die zwar für einige, die so genannte Fundortpopulationen halten, etwas ernüchternd sein mag, die jedoch zeigt, wie Menschen wahrscheinlich seit Jahrtausenden und wahrscheinlich auch schon früher zur Faunenverfälschung – oder besser gesagt Faunengestaltung – beigetragen haben. Dieses Beispiel macht uns auch an einem für viele von uns direkt nachzuvollziehenden Fakt deutlich, welchen Stellenwert die molekulare Systematik im Vergleich zur klassischen Systematik bietet (siehe Anmerkung zu Boero 2010), denn die klassische Systematik hätte wohl Ähnlichkeiten ergeben, aber immer noch nach spezifischen Unterartcharakteristika gesucht, ohne zu erkennen, dass es diese vielleicht gar nicht geben muss oder, dass sie nur gering sein können, weil die nahe Verwandtschaft im Unklaren geblieben wäre. Wie die Autoren hier richtig anmerken, sind diese Populationen durchaus schützenswert, denn es gibt viele Arten, denen dieses vom Menschen verursachte Schicksal zukommt, und wir haben diese Tiere seit Jahrhunderten als einheimisch angesehen. Ich will kein Prophet sein, aber letztendlich werden wir auch in einigen Generationen die Trachemys-Arten als in Europa ansässig akzeptieren. Vielleicht wird sie auch einmal unter Schutz gestellt, weil sie dann zu den wenigen Schildkrötenarten gehört, die hier überhaupt noch vorkommen. Wer weiß, wie sich alles entwickeln wird? Der Kormoran ist in Deutschland auch kein einheimischer Vogel und richtet sogar nachweislich in einigen Regionen Schaden an, aber er ist trotzdem geschützt (Vogel des Jahres 2010), und ich denke Sie dürften es schwer haben, einige Vertreter des BUND oder NABU vom Gegenteil zu überzeugen. Ich für meinen Teil möchte das Ganze nach Möglichkeit wertfrei betrachten (siehe Kommentar zu Turkozan et al. 2010) und mich nicht unbedingt so mancher einseitig orientierten Verbandslobbyistenmeinung anschließen, denn ich bin überzeugt davon, dass biologische Systeme von Natur aus auf Überleben und Diversifikation programmiert sind, um das Naturerbe weiter zu tragen. Dieser Planet hat in der Vergangenheit nachweislich sechs Phasen des Massenaussterbens überstanden (Rull 2011), und ich bin überzeugt, dass mit zukünftigen geologischen Ereignissen weitere folgen werden. Das heißt nicht, dass wir Natur- und Artenschutz vernachlässigen sollten, aber wir sollten nicht glauben, dass wir dabei das Verständnis der wirklichen Zusammenhänge außen vor lassen können.
Zudem möchte hier noch auf eine im Zusammenhang stehende Arbeit aus dieser Gruppe hinweisen, die allerdings ein Abstract in Deutsch hat, so dass ich sie hier dem deutschen Leser nicht aufbereiten brauche (Pedall et al. 2011).

Literatur

Boero, F. (2010): The Study of Species in the Era of Biodiversity – A Tale of Stupidity. – Diversity 2(1): 115-126 oder Abstract-Archiv.

Pedall, I. U. Fritz, H. Stuckas, A. Valdeon & M. Wink (2011): Gene flow across secondary contact zones of the Emys orbicularis complex in the Western Mediterranean and evidence for extinction and re-introduction of pond turtles on Corsica and Sardinia (Testudines: Emydidae). – Journal of Zoological Systematics and Evolutionary Research 49: 44-57 oder http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1439-0469.2010.00572.x/abstract ➚.

Rull, V. (2011): Sustainability, capitalism and evolution. Nature conservation is not a matter of maintaining human development and welfare in a healthy environment. – EMBO reports 12: 103-106.

Turkozan, O., F. Kiremit, J. F. Parham, K. Olgun & E. Taskavak (2010): A quantitative reassessment of morphology-based taxonomic schemes for Turkish tortoises (Testudo graeca). – Amphibia-Reptilia 31(1): 69-83 oder Abstract-Archiv.

Galerien