Chinesische Streifenschildkröte, Mauremys sinensis, – © Si-Min Lin

Lin - 2021 - 01

Lin, F.-C., M. J. Whiting, M.-Y. Hsieh, P.-J. L. Shaner & S.-M. Lin (2021): Superior continuous quantity discrimination in a freshwater turtle. – Frontiers in Zoology 18(1): 49.

Hervorragende kontinuierliche Mengenunterscheidung bei einer Süßwasserschildkröte.

DOI: 10.1186/s12983-021-00431-y ➚

Chinesische Streifenschildkröte, Mauremys sinensis, – © Hans-Jürgen Bidmon
Chinesische Streifenschildkröte,
Mauremys sinensis,
© Hans-Jürgen Bidmon

Hintergrund
Mengenunterscheidung, also die Fähigkeit, über Größenordnungen hinweg Mengen zu unterscheiden oder diskrete numerische Informationen zu gewinnen, spielt eine Schlüsselrolle für die Verhaltensweisen von Tieren. Während die Fähigkeit zur quantitativen Mengenunterscheidung sehr gut bei Fischen und Vögeln sowie Säugern dokumentiert ist und kürzlich auch für Evertebraten und Amphibien gezeigt wurde sind die Erkenntnisse darüber bei Reptilien nur spärlich vorhanden und wurde bislang nie bei aquatischen Schildkröten untersucht, obwohl es zunehmend Beweise dafür gibt, dass Reptilien über kognitive Fähigkeiten verfügen und lernfähig sind. Um diese Unzulänglichkeiten bei Reptilien besser abzuklären untersuchten wir die Fähigkeit quantitative Unterschiede zu erkennen bei der asiatischen Süßwasserschildkröte, Mauremys sinensis unter Verwendung von roten Quadern auf einem weißen Hintergrund bei einem antrainierten Test zur quantitativen Mengenunterscheidung. Während spontane quantitative Unterscheidungsmethoden angeblich ökologisch relevanter sein sollen, erlaubt aber das Trainieren von quantitativen Unterscheidungsparadigmen eine bessere Vergleichbarkeit zwischen verschiedenen Taxa.

Ergebnisse
Wir überprüften die Fähigkeiten der Schildkröten zur Erfassung von quantitativen Unterschiedsverhältnissen mit einer dargebotenen Serie von in der Anzahl verschiedenen paarweisen Mengenverhältnissen. Überraschenderweise waren die Schildkröten in der Lage quantitative Mengenunterschiede bis zu einer Mengenpaarung von 9 versus 10 (Verhältnis = 0.9) zu unterscheiden, was ihre gute Fähigkeit zeigt quantitative Mengen zu unterscheiden die der von Warmblütern gleichkommt. Unsere Ergebnisse belegen, dass die Befähigung zur Unterscheidung quantitativer Mengen dem Weber’schen Gesetz folgt welches besagt, dass bei zunehmender.Numerosität (Anzahl der Elemente in einer Menge) die Unterscheidungsleistung in Bezug auf das Mengenverhätnis abnimmt. Zudem zeigt die graduelle Verbesserung bei der Erfolgsrate zwischen verschiedenen Experimenten und Experimentierphasen, dass die Schildkröten dabei ihre Fähigkeit zum Lernen einsetzen.

Schlussfolgerung
Reptilien besitzen die Fähigkeit, Mengen zu unterscheiden, was lange ignoriert wurde und deshalb unterschätzt wird. Es sind deshalb mehr vergleichende Untersuchungen zur Erfassung der numerischen Kognition zwischen den verschieden Spezies notwendig was uns ein klareres Verständnis über die quantitativen Fähigkeiten der Tiere liefern könnte und uns zeigen würde, ob sich diese Befähigung konvergent bei den verschiedenen Taxa evolviert hat.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Diese Arbeit zeigt sehr eindrucksvoll, dass M. sinensis Mengenverhältnisse unterscheiden und abschätzen kann. Damit sind sie wahrscheinlich in Bezug auf die Numerosität gleichauf mit 2-3jährigen Kindern. Zudem zeigt die Studie, dass sie dabei auch einen gewissen Grad an Abstraktionsfähigkeit zeigen, ihnen wurden ja eigentlich auf einem weißen Hintergrund rote Quader also Symbole dargeboten und nicht etwa für sie bekannte Futtertiere, Pflanzen oder Beutegreifer. Sicher bekamen sie Futter als Belohnung, aber dennoch mussten sie dazu ihre Lern- und Kognitionsfähigkeit einsetzen. Ja, warum sollten also Lebewesen die sich, wenn nötig, an einem Sonnenkompass, Erdmagnetfeld oder einem Sternenbild orientieren können nicht auch befähigt sein Mengen zu unterscheiden. Diese Befähigungen sind in bestimmten Umweltbedingungen überlebensnotwendig. Deshalb werden sie wohl auch durch die Umwelt, in der die verschiedenen Populationen und Arten leben, unterschiedlich stark ausgeprägt sein (siehe z. B. Roth & Krochmal, 2015; Krochmal et al., 2021; Xiao et al., 2021 und die dortigen Kommentare). Was hier zudem auffällt ist wohl, dass bei der getesteten Art diese Fähigkeit und das Erlernen Mengen zu unterscheiden nicht altersabhängig ist, weil es sich dabei wohl um eine an jede Umweltsituation adaptiv anzupassende Überlebensvoraussetzung bei „langlebigen“ Tieren handelt. Siehe auch De Meester & Baeckens (2021 sowie Alcott et al., 2020 und den dortigen Kommentar).

Literatur

Alcott, D., M. Long & T. Castro-Santos (2020): Wait and snap: eastern snapping turtles (Chelydra serpentine) prey on migratory fish at road-stream crossing culverts. – Biology Letters 16(9): 20200218 oder Abstract-Archiv.

De Meester, G. & S. Baeckens (2021): Reinstating reptiles: from clueless creatures to esteemed models of cognitive biology. – Behaviour 158(12-13): 1057-1076 oder Abstract-Archiv.

Krochmal, A. R., T. C. Roth & N. T. Simmons (2021): My way is the highway: the role of plasticity in learning complex migration routes. – Animal Behaviour 174(2): 161-167 oder Abstract-Archiv.

Roth, T. C. II & A. R. Krochmal (2015): The Role of Age-Specific Learning and Experience for Turtles Navigating a Changing Landscape. – Current Biology 25(3): 333-337 oder Abstract-Archiv.

Xiao, F., R. Bu, L. Lin, J. Wang & H. Shi (2021): Home-site fidelity and homing behavior of the big-headed turtle Platysternon megacephalum. – Ecology and Evolution 11(11): 5803-5808 oder Abstract-Archiv.

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