Köhlerschildkröte, Chelonoidis carbonaria, – © Hans-Jürgen Bidmon

Wilkinson - 2010 - 01

Wilkinson, A., K. Kuenstner, J. Mueller & L. Huber (2010): Social learning in a non-social reptile (Geochelone carbonaria). – Biology Letters 6(5): 614-616.

Soziales Lernen bei einem unsozialen Reptil (Geochelone carbonaria).

DOI: 10.1098/rsbl.2010.0092 ➚

Köhlerschildkröte, Chelonoidis carbonaria, – © Hans-Jürgen Bidmon
Köhlerschildkröte,
Chelonoidis carbonaria,
© Hans-Jürgen Bidmon

Die Fähigkeit, von den Aktionen anderer zu lernen, ist adaptiv, da es eine Zeit sparende Möglichkeit bietet, sich neue Informationen und Fähigkeiten anzueignen. Allerdings ist das Auftreten dieser Fähigkeit während der Evolution immer noch unklar. Es gibt jedoch Belege dafür, dass in Gruppen (oder Schwärmen) lebende Säugetiere, Vögel, Fische und Insekten durch Beobachtung lernen können, was aber bislang bei Reptilien nie untersucht wurde. Hier zeigen wir, dass die unsoziale Köhlerschildkröte (Geochelone carbonaria) durch die Beobachtung anderer Köhlerschildkröten eine einen Umweg erfordernde Aufgabe lernen kann, die von den Schildkröten nicht erlernt werden konnte, die nicht von Artgenossen lernen konnten. Dieses Ergebnis liefert erste Beweise dafür, dass eine unsozial lebende Spezies sozial übermittelte Signale nutzen kann, um eine Aufgabenstellung zu erlernen, die durch individuelles Lernen nicht bewältigt werden kann. Letzteres widerspricht der Idee, dass soziales Lernen nur als Anpassung an einen sozialen Lebensstil auftritt.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Hierbei handelt es sich um eine sehr schöne Arbeit, die erstmals für ein Reptil zeigt, dass es in einem sozialen Kontext lernen kann, und das ist für sich genommen schon einmal eine gute Sache, die manch einem zu denken geben sollte. Tatsächlich wurde dieses Ergebnis sogar für so wesentlich erachtet, dass es selbst der Zeitschrift Nature einen Kommentar wert war (Anonymus 2010). Was aber bedeutet das? Es zeigt uns, dass zumindest Köhlerschildkröten zu den gleichen sozialen Lernleistungen befähigt sind wie Bienen, manche Fische, Vögel und Säugetiere. Man sollte aber auch sagen, dass wenn man das durchgeführte Experiment genau betrachtet, man feststellen muss, dass die Schildkröten die Aufgabe durch Beobachtung anderer schneller erlernen. Letzteres schließt jedoch nicht völlig aus, dass die Einzelindividuen es nicht auch lernen könnten, eben nur mit viel mehr Zeit als den vorgegebenen zwei Minuten. Damit belegen die Autoren der Studie eigentlich genau das, was man in der Natur unter natürlichen Bedingungen auch beobachtet. Denn bevor man von einem etwas lernen kann, muss es ja mal einer oder eine erlernt haben (vielleicht nach stundenlangen mühevollen Versuchen). Dennoch würde ich diesen Autoren empfehlen, sich stärker an der Natur der Köhlerschildkröten zu orientieren. Denn ich halte den Ansatz, dass Köhlerschildkröten unsozial sind für völlig falsch und überholt. (Hier folgt man dem veralteten Glauben, dass Reptilien per se unsozial zu sein haben, vielleicht weil man sich nie richtig mit der Biologie dieser Tiere auseinandergesetzt hat). Dabei gibt es genug Erkenntnisse, die belegen, dass zumindest jene Köhlerschildkröten aus semiariden Lebensräumen eine deutlich soziale Lebensweise führen wie sie z. B. von Vinke & Vinke (2003) für jene aus dem Chaco Boreal beschrieben wurde. Ja, sie haben sogar Erkennungs- und Kommunikationsrituale. Wer also das gemeinsame Höhlenleben einer Murmeltiergruppe (oder eines Hummelstocks) als soziale Lebensweise ansieht, der sollte sich zumindest solche Arbeiten anschauen, ehe er anderen sehr ähnlich lebenden Lebewesen eine unsoziale Lebensweise bescheinigt. Ich denke, diese Wissenschaftler haben genau das nachgewiesen, was diese Tiere, um in ariden Gebieten überleben zu können leisten müssen, denn auch hier lernen die Jungen zwar nicht direkt von ihren Eltern, aber doch durch die Beobachtung alter erfahrener Mitbewohner der Riesengürteltierhöhlen, auf welchem Weg man in der Trockenzeit wasserreiche Kakteen findet. Für europäische Laborwissenschaftler hätte ich deshalb nur zwei Tipps, nämlich entweder einmal vor Ort die Tiere, die sie untersuchen wollen, in der Natur richtig zu beobachten (nicht nur im Urlaub einmal eine gesehen zu haben) oder sich zumindest ein ausführliches Buch zur Spezies, wie in diesem Fall Vinke et al. (2008) durchzulesen. Denn man kann auch trotz guter wissenschaftlicher Daten falsche Schlüsse ziehen, zumal die Befunde, die diese Wissenschaftler erhalten haben, auch eher für ein Sozialverhalten sprechen als für das Gegenteil. Insofern könnte man auch behaupten, sie hätten soziales Lernvermögen bei einer sozial lebenden Schildkrötenspezies nachgewiesen. Der Spruch: „Im Leben ist es immer so wie im richtigen Leben“ trifft auch hier, denn hätte man die natürliche Lebensweise dieser Art von vornherein berücksichtigt, hätte man sogar mit dem Ergebnis der Studie rechnen können. (Siehe auch Kommentar zu: Crews et al. 2006).

Literatur

Anonymus (2010): Animal behaviour: Tortoise see, tortoise do. – Nature 464: 817.

Crews, D., W. Lou, A. Fleming & S. Ogawa (2006): From gene networks underlying sex determination and gonadal differentiation to the development of neural networks regulating sociosexual behavior. – Brain Research 1126(1): 109-121 oder Abstract-Archiv.

Vinke, T. & S. Vinke (2003): Eine ungewöhnliche Überlebensstrategie der Köhlerschildkröte Geochelone carbonaria im Chaco Boreal Paraguays. – Radiata, Lingenfeld 12(3): 21-31.

Vinke, S., H. Vetter, T. Vinke & S. Vetter (2008): Südamerikanische Landschildkröten. – Schildkrötenbibliothek Band 3. – Frankfurt am Main (Edition Chimaira), 360 S.

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