Maurische Landschildkröte, Testudo graeca, – © Hans-Jürgen Bidmon

Versace - 2020 - 01

Versace, E., S. Damini & G. Stancher (2020): Early preference for face-like stimuli in solitary species as revealed by tortoise hatchlings. – Proceedings of the National Academy of Sciences 117(39): 24047-24049.

Der Nachweis für die frühe Bevorzugung von gesichtsähnlichen Reizen bei einer solitären Art anhand von Landschildkrötenschlüpflingen.

DOI: 10.1073/pnas.2011453117 ➚

Maurische Landschildkröte, Testudo graeca, – © Hans-Jürgen Bidmon
Maurische Landschildkröte,
Testudo graeca,
© Hans-Jürgen Bidmon

Zu Beginn des Lebens zeigen unerfahrene Babys und menschliche Föten genauso wie frischgeschlüpfte Hühnerküken und neugeborene Affen eine Präferenz gesichtsähnliche Konfigurationen (z. B. drei dicke Punkte in Form eines Dreiecks mit nach unten zeigender Spitze). Da allerdings alle der genannten Arten unter elterlicher Fürsorge aufwachsen bleibt es unklar ob diese frühe Bevorzugung von Gesichtern einen Mechanismus darstellt der die Orientierung hin zu den Verwandten und somit die Hinwendung zu den Eltern und deren Fürsorge fördert oder ob es sich dabei um einen generellen Mechanismus handelt um die Aufmerksamkeit auf Lebewesen zu lenken. Wir untersuchten diese gegensätzlichen Hypothesen indem wir unerfahrene Schlüpflinge von fünf verschiedenen Schildkrötenarten verwendeten, die ja als solitäre Lebewesen ohne elterliche Fürsorge gelten. Denn wenn die frühe Bevorzugung von gesichtsähnlichen Formen sich nur im Zusammenhang mit der elterlichen Fürsorge evolviert hat, dann sollte sie bei solitär aufwachsenden Arten nicht vorhanden sein. Wir beobachteten aber dass visuell naive Schildkröten sich gesichtsähnlichen Mustern eher zuwenden als alternativ angebotenen anderen Testkonfigurationen. Diese Prädisposition zur Hinwendung zu gesichtsähnlichen Stimuli die wir bei den Schlüpflingen dieser solitären Arten beobachteten legt nahe, dass es sich dabei um einen entwicklungsgeschichtlich sehr alten Mechanismus handelt der schon bei den Vorgängern von Reptilien und Säugetieren vorhanden war und der die Erkundungsreaktionen und ein potentielles Lernverhalten sowohl bei solitären wie auch bei sozialen Spezies erkennen lässt.

Breitrandschildkröte, Testudo marginata, – © Hans-Jürgen Bidmon
Breitrandschildkröte,
Testudo marginata,
© Hans-Jürgen Bidmon

Kommentar von H.-J. Bidmon

Nun diese Studie scheint einen interessanten Aspekt der Wahrnehmung bei Reptilien und hier insbesondere bei den Schlüpfligen von Testudo graeca, T. hermanni, T. horsfieldii, T. marginata und Hybriden von T. graeca x T. marginata zu adressieren. Allerdings war es wohl weniger die ungewöhnlich neue Erkenntnis als die erstmaligen Tests zum Nachweis die dafür sorgten, dass man die Befunde gleich so gut publizieren konnte. Eigentlich hätte man sich für mein Dafürhalten schon die erste Fragestellung sparen können und hätte gleich die Hypothese aufstellen können, dass diese Fähigkeit bei allen sehenden und sich visuell orientierenden Tieren vorhanden sein muss. Denn nicht nur fürsorgliche, soziale Eltern haben ein Gesicht, sondern die meisten Beutegreifer werden auch am Gesichtsausdruck neben der Körperform erkannt. Deshalb kann man eigentlich davon ausgehen, dass sich die Aufmerksamkeit auf dieses gesichtsähnliche Schema richtet. Hier reden die Autoren ja auch nicht von „Daraufzulaufen“ sondern von sich Zuwenden. Dieses Zuwenden ist aber notwendig, um sich ein näheres Bild zu verschaffen und zu entscheiden wie man sich weiter verhalten sollte. Diese Fähigkeit ist eben nicht nur im Rahmen eines sozialen, innerartlichen Kontexts zu verstehen, sondern gleichzeitig auch eine Grundvoraussetzung zum Erlernen von Feindbildern. Und dann wäre da noch die hinlänglich falsch verstandene Theorie der solitären Lebensweise. Sicher gibt es Tiere die eine solitäre Lebensweise bevorzugen, aber letzteres bedeutet ja nur, dass ihr individueller Lebensraum (Territorium) relativ groß ist, sodass wir sie meist nur als Einzelindividuen wahrnehmen. Letzteres bedeutet aber nicht, dass sie keine sozialen Interaktionen mit Artgenossen haben, denn die sind spätestens zur Fortpflanzung bei den meisten Wirbeltieren unabdingbar. Auch dafür ist die Partnererkennung eine wesentliche Voraussetzung die meist strengen sozialen Regeln bei der Begegnung folgen. Ganz abgesehen davon, dass viele Landschildkröten sich gar nicht als unsoziale Einzelgänger erweisen (siehe dazu auch Kommentar zu Crews et al., 2006; Ibanez & Vogt, 2015) haben die Autoren hier nur etwas bestätigt was eigentlich als Grundvoraussetzung zumindest für sehende Wirbeltiere angesehen werden sollte und zwar ungeachtet ihrer angeblich solitären Lebensweise. Siehe dazu auch den Kommentar zu Versace et al., (2018) sowie Loy & Cianfrani (2010) die durchaus auf ein Sozialverhalten verweisen.

Literatur

Crews, D., W. Lou, A. Fleming & S. Ogawa (2006): From gene networks underlying sex determination and gonadal differentiation to the development of neural networks regulating sociosexual behavior. – Brain Research 1126(1): 109-121 oder Abstract-Archiv.

Gutnick, T., A. Weissenbacher & M. J. Kuba (2019): The underestimated giants: operant conditioning, visual discrimination and long-term memory in giant tortoises. – Animal Cognition 23: 159-167 oder Abstract-Archiv.

Ibáñez, A. & R. C. Vogt (2015): Chemosensory discrimination of conspecifics in the juvenile yellow-spotted river turtle Podocnemis unifilis. – Behaviour 152(2): 219-230 oder Abstract-Archiv.

Loy A. & C. Cianfrani (2010): The ecology of Eurotestudo h. hermanni in a mesic area of southern Italy: first evidence of sperm storage. – Ethology Ecology & Evolution 22(1): 1-16 oder Abstract-Archiv.

Versace, E., S. Damini, M. Caffini & G. Stancher (2018): Born to be asocial: newly hatched tortoises avoid unfamiliar individuals. – Animal Behaviour 138: 187-192 oder Abstract-Archiv.

Galerien