Zierschildkröte, Chrysemys picta, im Gartenteich – © Hans-Jürgen Bidmon

Moldowan - 2020 - 01

Moldowan, P. D., R. J. Brooks & J. D. Litzgus (2020): Demographics of injuries indicate sexual coercion in a population of Painted Turtles (Chrysemys picta). – Canadian Journal of Zoology 98(4): 269-278.

Die demographische Erfassung von Verletzungen verweisen auf eine geschlechtsbezogene Gewaltanwendung bei einer Population von Zierschildkröten (Chrysemys picta).

DOI: 10.1139/cjz-2019-0238 ➚

Chrysemys picta, – © Hans-Jürgen Bidmon
Zierschildkröte, Chrysemys picta,
© Hans-Jürgen-Bidmon

Geschlechtsspezifische Anwendung von Gewalt ist bei Tieren weit verbreitet und gehört zu deren Reproduktionstaktik. Männchen nutzen dazu meist spezialisierte Strukturen zur Bedrängung, Einschüchterung oder zur körperlichen Verletzungen Weibchen zur Kopulation zu bewegen. Bei Taxa die solche Gewalt - ausübende Paarungssysteme anwenden wird oftmals über Verletzungen an Kopf und Hals berichtet. Für die Paarungstaktik bei Zierschildkröten (Chrysemys picta (Schneider, 1783)) wird ein typisches Balzverhalten bei den Männchen und ein Auswahlverhalten durch die Weibchen beschrieben. Im Gegensatz dazu wiesen weibliche Zierschildkröten aus unserer Untersuchungspopulation Verletzungen am Kopf und Nacken auf die auf Bisswunden hindeuteten die durch den Einsatz von geschlechtsspezifisch vorhandenen Tomidonten (zahnförmige Fortsätze der Hornscheide des Oberkiefers) und von waffenartig (eingesägten) angelegten Panzermorphologie her rührten die während der Reproduktionsinteraktionen zum Einsatz kamen. Unter Verwendung eines über 24 Jahre zurückreichenden Datensatzes zeigen wir Trends auf Populationsniveau zum Auftreten von Hautverletzungen die durch Artgenossen verursacht wurden. Adulte Weibchen wiesen häufiger solche Wunden auf im Vergleich zu Männchen oder Jungtieren wobei insbesondere bei den größten Weibchen das Vorhandensein von Wunden wahrscheinlicher war als bei kleineren Weibchen. Die Wunden konzentrierten sich meist auf der Kopf- und Halsoberseite der Weibchen was übereinstimmt mit der Erwartung für das Auftreten solcher geschlechtsspezifischen Gewaltanwendung. Zudem kam es in Übereinstimmung mit der Paarungsperiode im Spätsommer zum erhöhten Auftreten frischer Verletzungen. Mit der Erfassung des demographischen Auftretens solcher Verletzungen liefern wir indirekte Beweise dafür, dass die Tomiodonten sowie die Panzerstrukturen der männlichen Zierschildkröten zu diesen Verletzungen führen und als geschlechtsspezifische Waffen eingesetzt werden. Diese Ergebnisse bedingen eine neue Sichtweise in Bezug auf das Verständnis der Komplexität von Paarungsverhalten bei einer oft übersehenen und schwierig zu beobachtenden taxonomischen Gruppe.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Diese mit einigen Farbabbildungen versehene Arbeit zu den bei Männchen geschlechtsspezifisch ausgeprägten beschriebenen Strukturen beschreibt eigentlich ein Paarungsverhalten das für etliche Schildkrötenspezies beschrieben ist und auch insbesondere bei etlichen Landschildkröten zu beobachten ist wie das die meisten Leser/innen vom Balzverhalten z. b. europäischer Arten der Gattung Testudo her kennen. Dennoch sollten wir uns davor hüten diese Verhalten zu sehr aus einem menschlichen Blickwinkel her zu betrachten und zu beurteilen. Solche Verhaltensweisen haben sich natürlicherweise artspezifisch oder gar manchmal nur populationsspezifisch über lange evolutionäre Zeiträume hinweg heraus selektioniert, weil anscheinend die Art oder Population insgesamt davon profitierte. Letzteres bedingt also auch, dass innerhalb der Art oder Population beide Geschlechter einen Vorteil davon hatten der darin zum Ausdruck kommt, dass beide beteiligten Geschlechter ihre Gene so erfolgreich an die nächste Generation weitergeben können und den Fortbestand sichern. Ja selbst in Lebensräumen mit begrenzten Ressourcen kann es für die Nachfolgegeneration von einem überlebenswichtigen Vorteil sein, wenn sogar einige ältere aufgrund von Sekundärinfektionen die an solchen Verletzungen entstehen etwas früher als in Bezug auf die Überlebensfähigkeit möglich versterben, da ihr Verschwinden dem Nachwuchs ein besseres Überleben garantieren. Hier sollte man immer bedenken, dass Natur keinen menschlichen, moralischen Vorstellungen folgt, sondern ausschließlich natürlichen Prozessabläufen (siehe auch Lee und den dortigen Kommentar). Solche Beobachtungen eröffnen oft einen etwas mehr philosophischen Blick auf wissenschaftliche Betrachtungsweisen, denn die derzeitige Wissenschaft fokussiert sich häufig ausschließlich auf mechanistische, formelle Gegenwartsbeschreibungen. Die hier beschriebenen Verletzungen und die beschriebenen geschlechtsspezifischen männlichen Mechanismen beziehen sich alle nur auf ein aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart reichendes Ereignis (eine Causa efficiens) während das in der Zukunft liegende und zu sehende Ereignis, während nämlich das erfolgreiche Aufwachsen der nächsten Generation und damit der Art- bzw. Populationsfortbestand als Causa finalis oft völlig unberücksichtigt bleibt. Wir als frei denkende, zur Abstraktion befähigte Homo sapiens sollten uns aber diesen Blick auf das Ganze eines komplexen natürlichen Verlaufs im Sinne von Scheffer & Van Nes (2018) nicht nehmen lassen! Siehe dazu auch die Kommentare zu Chen et al. (2020): und Scott et al., (2018), denn auch dort liegen die überlebenssichernden Vorteile nicht in der Gegenwart in der die Elternindividuen ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Entscheidung treffen, sondern erst in der noch nicht eingetretenen Zukunft, da sie die noch nicht geborene Nachwuchsgeneration betreffen. Sollte uns dieser anscheinend in der Natur der Evolution lebender Organismen sehr früh verankerte Zukunftsaspekt nicht auch in Bezug zum Klimawandel oder den Entscheidungen zur COVID-19-Krise und bei vielen anderen Entscheidungen zu denken geben? Bis jetzt betrachtet fast nur die Quantenphysik Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Einheit! Ja und letztendlich stellt sich dann schon die Frage welche Bedeutung hat das für eine vom Menschen modulierte oder gar durchgeplante, zukünftige Biodiversitätserhaltungsstrategie? Denn nur eine Strategie zu haben bedeutet ja nicht zwangsläufig, dass sie richtig oder erfolgreich ist. Wie viele Kriege oder politische Optionen wurden schon trotz anscheinend erfolgversprechender Strategie verloren bzw. verspielt bloß, weil einige wesentliche Kleinigkeiten unberücksichtigt blieben oder man bestimmten eher „egoistischen“ Entscheidungen zu viel Gewicht beigemessen hatte?

Literatur

Chen, C. & K. S. Pfennig (2020): Female toads engaging in adaptive hybridization prefer high-quality heterospecifics as mates. – Science 367(6484): 1377-1379 oder Abstract-Archiv.

Lee, P. L. M. & G. C. Hays (2004): Polyandry in a marine turtle: Females make the best of a bad job. – Proceedings of the National Academy of Science of the U.S.A. 101(17): 6530-6535 oder Abstract-Archiv.

Scheffer, M. & E. H. van Nes (2018): Seeing a global web of connected systems. – Science 362(6421): 1357; DOI: 10.1126/science.aav8478 ➚.

Scott, P. A., T. C. Glenn & L. J. Rissler (2018): Formation of a recent hybrid zone offers insight to the geographic puzzle and maintenance of species boundaries in musk turtles. – Molecular Ecology 28(4): 761-771 oder Abstract-Archiv.

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