Maurische Landschildkröte, Testudo graeca, – © Hans-Jürgen Bidmon

Gracia - 2013 - 02

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Graciá, E., F. Botella, J. D. Anadón, P. Edelaar, D. J. Harris & A. Giménez (2013): Surfing in tortoises? Empirical signs of genetic structuring owing to range expansion. – Biological Letters 9(3): 20121091.

Surfen bei Landschildkröten? Empirische Anzeichen für eine genetische Strukturierung aufgrund der Verbreitungsgebietserweiterung.

DOI: 10.1098/rsbl.2012.1091 ➚

Maurische Landschildkröte, Testudo graeca, – © Hans-Jürgen Bidmon
Maurische Landschildkröte,
Testudo graeca,
© Hans-Jürgen Bidmon

Der größte Teil unseres Wissens über die genetischen Dynamiken, die bei einer Lebensraumerweiterung eine Rolle spielen, stammen von Modellen, Simulationen oder aus Experimenten mit Mikroorganismen, die erst einmal durch wirkliche Freilanddaten bestätigt werden müssten. Hier in dieser Studie beschreiben wir ein neutrales genetisches Muster, das den Vorhersagen der Theorie eines genetischen Surfens sehr nahe kommt. Genetisches Surfen tritt auf, wenn es zu wiederholten Gründungsereignissen (Populationsgründungen) kommt und die so genannte genetische Drift einen Einfluss auf die Ausbreitungswelle (Neubesiedlungswelle) der sich ausbreitenden Populationen hat, was einer starken räumlichen Strukturierung Vorschub leistet. Bei der Verbreitungsgebietserweiterung der Landschildkröte Testudo graeca von Nordafrika aus in das südöstliche Spanien hinein fanden wir mehrere genetische Anzeichen (Signaturen), die mit der Theorie des genetischen Surfens in Einklang stehen. Nämlich die Abnahme der genetischen Diversität (Verschiedenheit untereinander) mit zunehmender Entfernung von dem Areal der initialen Gründerpopulation, klinale Muster bei den Allelhäufigkeiten, seltene afrikanische Allele, die in weit entfernten spanischen Verbreitungsgebieten häufig wurden und im Vergleich zur Ausgangspopulation eine stärker ausgeprägte räumliche Verschiedenheit bei den sich ausbreitenden Populationen. Unsere Befunde unterstützen die Theorie, dass die „Genetische Drift“ eine wesentliche Kraft ist, die auf die genetische Strukturierung sich ausdehnender Populationen einwirkt.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Dieses Abstract und die dazu gehörige Arbeit sind sicher für einige etwas schwer verständlich. Allerdings wird hier etwas beschrieben, was eigentlich jeder leicht nachvollziehen kann und was auch für jemanden, der sich mit der Zucht von Rassetieren beschäftigt, fast zum intuitiven Allgemeinwissen zählt. Denn die Autoren beschreiben hier sehr schön, dass die kleinen Populationen, die sich vom Gründungszentrum in Spanien aus nach Norden und Osten hin in die einzelnen neuen Lebensräume ausbreiten zueinander unterschiedlicher werden, aber innerhalb jeder einzelnen Population immer ähnlicher werden. Das ist vielleicht auch bei Schildkröten relativ leichter zu beobachten, als bei mobileren Spezies. Denn man kann sich leicht vorstellen, dass ein Weibchen, das in vorderster Front in einem warmen Jahr etwas weiter nach Norden wandert und dort seine Eier ablegt, dort eine neue Population gründet und die dort geschlüpften Jungen dieses Weibchens oder weniger Weibchen und Männchen innerhalb dieses Gebiets auch zur Inzucht neigen oder sich relativ häufiger Halbgeschwister verpaaren, da diese Populationen noch klein und individuenschwach sind und vielleicht durch klimatische oder tektonische Bedingungen von der Ausgangspopulation abgetrennt werden (Sie besiedeln halt ein kleines Tal, in das in einem guten Jahr mal wenige Individuen eingewandert waren). Das heißt dort sind die Individuen bald oder nach ein paar Generationen untereinander genetisch sehr ähnlich. Wenn in einer solchen Populationen zufällig ein Tier war, das einem Haplotyp angehört, der in der nordafrikanischen Ausgangspopulation selten ist, dann kommt es halt dazu, dass dieser nun in dieser kleinen, abgespaltenen Lokalpopulation relativ häufig wird, weil viele Individuen mit diesem lokalen Gründertier verwandt sind. Das ist so als ob Sie sich ein paar Exemplare einer seltenen nur im entfernten Ausland noch häufiger vorkommenden Hühnerrasse zulegen und damit zu züchten beginnen, ohne dass sie regelmäßig zur Zucht zusätzliche Tiere aus anderen Regionen dazu bekommen können. Sie beginnen dann Ihren eigenen Zuchtstamm zu gründen, der sich nach ein paar Generationen deutlicher von den Ausgangstieren unterscheidet, zumal die neuen Umweltbedingungen (wie persönliche Vorlieben) ja auch einen selektierenden Einfluss auf die regionale Rassezucht haben. Nichts anderes wird hier in einem etwas komplizierten Wissenschaftsenglisch für spanische Testudo graeca Populationen beschrieben, die sich in verschiedene Lokalpopulationen von der Gründerpopulation aus in verschiede Richtungen hin ausbreiten. Wenn Sie so wollen, surfen hier Schildkrötengene auf einer Ausbreitungswelle innerhalb Spaniens nach Norden (wenn diese sinnbildlichen Surfer unterschiedlich farbige Segel haben, dann surfen eben in die eine Richtung welche mit gelben und in die anderen Richtungen vielleicht welche mit andersfarbigen Segeln, was eben zu unterschiedlichen lokalen Mustern führt). Wir sollten aber aus diesem abstrakten, wenn auch anscheinend der genetischen Realität stark angelehnten Sinnbild noch etwas erkennen: Nämlich dass es dabei in erster Linie um die Gene geht, die ja auch die Informationsträger sind und erst in zweiter Linie um die Phänotypen, die sie in sich tragen, denn es sind die Gene, die als Evolutionsline von Generation zu Generation leicht verändert weitergegeben werden, aber im Wesentlichen erhalten bleiben, obwohl die jeweiligen Phänotypen altern und sterben und durch neue sich leicht verändernde (adaptierende) ersetzt werden. So verändern sich Arten stetig, ein Umstand der dem diesbezüglich etwas ungeschickt gewählten Begriff der Arterhaltung, so wie ihn manche im Sinne von Phänotyperhaltung verstehen, längst nicht gerecht wird. Wir können dynamische sich an Veränderungen anpassende Überlebensprozesse nicht in pseudostabile Erhaltungszwänge stecken, denn damit verurteilen wir sie zum Stillstand und zum Tode! Was wir aufrechterhalten sollten, ist die Möglichkeit zur Evolutionsdynamik auf möglichst hohem Niveau, denn in einer sich immer schneller ändernden (oder erwärmenden) Umwelt brauchen wir eigentlich auch mehr Anpassungs- und Evolutionsdynamik als Stillstand. Dazu gehören nun mal auch solche Dinge wie Konnektivität und vielleicht auch Hybridisierung (siehe Lee 2011 und Kommentare zu Hoffmann & Sgro 2011, Lenzen et al. 2012, Shoemaker et al. 2013; Vila et al. 2012).

Literatur

Hoffmann, A. A. & C. M. Sgro (2011): Climate change and evolutionary Adaptation. – Nature 470(7335): 479-485 oder Abstract-Archiv.

Lee, H. (2011): Climate change, connectivity, and conservation success. – Conservation Biology 25(6): 1139-1142 oder Abstract-Archiv.

Lenzen, M., D. Moran, K. Kanemoto, B. Foran, L. Lobefaro & A. Geschke (2012): International trade drives biodiversity threats in developing nations. – Nature 486(7401): 109-112 oder Abstract-Archiv.

Shoemaker, K. T., A. R. Breisch, J. W. Jaycox & J. P. Gibbs (2013): Reexamining the Minimum Viable Population Concept for Long-Lived Species. – Conservation and Biology 27(3): 542-551 oder Abstract-Archiv.

Vila, S. T., S. M. Vargas, P. Lara-Ruiz, E. Molfetti, E. C. Reis, G. Lôbo-Hajdu, L. S. Soares & F. R. Santos (2012): Nuclear markers reveal a complex introgression pattern among marine turtle species on the Brazilian coast. – Molecular Ecology 21(17): 4300-4312 oder Abstract-Archiv.

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