Kalifornische Gopherschildkröte, Gopherus agassizii, – © H. Bradley Shaffer

Golubovic - 2014 - 01

Golubović, A., M. Andjelkovic, D. Arsovski, A. Vujovic, V. Ikovic, S. Djordjevic & L. Tomovic (2014): Skills or strength-how tortoises cope with dense vegetation? – Acta Ethologica 17(3): 141-147.

Geschick oder Kraft – Wie gehen Landschildkröten mit dichter Vegetation um?

DOI: 10.1007/s10211-013-0171-3 ➚

Kalifornische Gopherschildkröte, Gopherus agassizii, – © H. Bradley Shaffer
Kalifornische Gopherschildkröte,
Gopherus agassizii,
© H. Bradley Shaffer

Eine dichte Vegetationsbedeckung hat zweifellos einige Vorteile für kleine, sich langsam bewegende Tiere, aber sie bringt bezüglich der räumlichen Ökologie (z. B. bei Wanderungen) auch Nachteile mit sich, die in früheren Studien oft unberücksichtigt blieben. Landschildkröten können mit ihren vorstehenden Panzeranteilen dabei relativ leicht in der Vegetation steckenbleiben, was sie anfällig für Überhitzung und Austrocknung macht, und sie könnten leichter von Beutegreifern ergriffen werden. Um nun zu untersuchen, wie sich die Pflanzenbedeckung auf das Verhalten von „steckengebliebenen (gefangenen)“ Landschildkröten auswirkt und deren Verhaltensweisen prägt, testeten wir adulte Schildkröten in sechs Populationen, die in Habitaten mit sehr unterschiedlicher Pflanzenbedeckung leben. Die Schildkröten wurden dazu am vorderen vorstehenden Plastron mit einem nicht dehnbaren Seil fixiert, welches Pflanzenteile wie lange Grashalme oder Zweige simulierte. Die Ergebnisse zeigten zwei distinkt unterschiedliche Befreiungstechniken. Als erste und als einzige erfolgreiche Strategie in diesem Studiendesign beobachteten wir einen häufigen Wechsel der Fortbewegungsrichtung unter minimaler Aufbringung an Zugkraft, bis sich das Hindernis ablöste. Die andere Art der Befreiungstechnik bestand in dem Versuch, das Seil durch maximalen Zugkraftaufwand zu zerreißen. Die Landschildkröten, die in Habitaten mit vielen Sträuchern lebten, hatten dabei einen höheren und schnelleren Befreiungserfolg, wobei sie kaum Zugkraft anwendeten. Im Gegensatz dazu verhielten sich die Landschildkröten in den Habitaten mit einer vorrangig aus Kräutern bestehenden Vegetation. Obwohl beide Geschlechter vergleichbare Befreiungserfolge zeigten, beobachteten wir bei den Weibchen eine geringere Anzahl an Richtungswechsel und den Einsatz von etwas mehr Zugkraft im Vergleich zu den jeweiligen Männchen, was nahelegt, dass es zu leicht unterschiedlichen Befreiungsstrategien zwischen den Geschlechtern kommt. Für von der Vegetation immobilisierte Schildkröten bei fehlendem Unterschlupf und Beschattung besteht die Gefahr der Überhitzung und Dehydration, sodass entsprechend befreiende Verhaltensanpassungen für sie überlebenswichtig sind. Letzteres kann speziell in sehr trockenen Jahren mit dem damit verbundenen physiologischen Stress von Bedeutung sein. Der Verschiedenheit des hier in dieser Studie beobachteten Befreiungsverhaltens zwischen den unterschiedlichen Schildkrötenpopulationen liegt sehr wahrscheinlich eine (adaptive) Verhaltensanpassung an den jeweiligen Lebensraum zugrunde.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Keine Angst die Schildkröten wurden in dieser Studie nicht übermäßig stranguliert und auch in ihren natürlichen Vorkommensgebieten und Mikrohabitaten getestet. Dabei wurde den Tieren eine Schnur unter den Hals umgelegt, sodass sich die Gularschilde des Plastrons einhängten und jedem Individuum wurden drei Minuten Zeit für die Befreiungsversuche gegeben. Wenn sie es bis dahin nicht geschafft hatten sich zu befreien, wurde der Test beendet. Insofern eine schöne Arbeit, die auch für die von manchen als ach so stupide eingestuften Schildkröten zeigt, dass sie lernfähig sind und eine Biotopanpassung an den Tag legen, die anscheinend auf dieser Lernfähigkeit beruht, genauso wie schon in der kürzlich vorgestellten Arbeit zum Bewegungsverhalten in steilen und hindernisreichen Habitat (Golubović et al. 2014). So mancher Verhaltensforscher würde hier sicher von Verhaltensplastizität reden. Letztendlich nichts weiter als die Befähigung zum Lernen, um sich unterschiedlichen Lebensräumen (Lebensraumanpassung) anpassen zu können. Ja und diese zuletzt angeführten Begriffe gehören mit zu den großen Themen einer modernen Betrachtung der Evolution (siehe Richardson 2013), denn Gene vererben eine Gabe, die –wenn sie das Überleben sichern soll – der nächsten Generation die Grundlagen (Lernfähigkeit) mitgeben, diese Verhaltensanpassungen zu leisten. Letzteres gilt in mehr oder weniger extremer Form und in Abfolge von der Generationsdauer von der Bakterie, bis – wenn Sie so wollen – zum Menschen. Manche werden sich fragen, warum dem so ist, denn Lebewesen müssen doch nach alter Lehrmeinung so geboren werden, dass sie in einer vorhandenen Umwelt überleben können? Dem ist sicher so! Lediglich mit der Ausnahme, dass Lebensräume, insbesondere für langlebige Spezies in den seltensten Fällen über die gesamte Lebensspanne stabil bleiben. Eltern einer jeden Spezies könnten aber an ihre Nachkommen (Jungen) nur Dinge und Verhaltensweisen vererben, die sie selbst erfahren haben, nicht jedoch lebensnotwendige Verhaltensweisen oder Lebensraumanpassungen, die sich erst im Laufe des Lebens ihrer Nachkommen als neu in sich verändernden Lebensräumen ergeben oder einstellen. Auch wenn es uns schwerfällt es zu sehen, Lebensräume haben sich immer verändert und jedes heute noch rezente (also heute noch lebende Spezies) Lebewesen musste zwangsläufig mit den Veränderungen schritthalten. Was sind solche Veränderungen? Nun, das können Vulkanausbrüche und die damit einhergehenden Veränderungen sein, ebenso wie das Einwandern neuer Spezies (invasive Arten) oder Beutegreifer in die angestammten Lebensräume, die neue Anpassungsstrategien bedingen (siehe als aktuellstes Beispiel für Reptilien: Stuart et al. 2014). Genauso gehören dazu Klimaverschiebungen und ihre Folgen und auch die Einflussnahme des Menschen durch Urbanisierung und Fragmentierung der Landschaft, aber auch die Folgen einer fortschreitenden Umweltverschmutzung (McCrink-Goode 2014). Selbst die Darmbakterien in Ihren eigenen Eingeweiden können nicht vorhersehen, wie sich Ihr Ernährungsverhalten im Laufe Ihres Lebens verändern wird und müssen in der Lage sein, sich diesen Veränderungen anzupassen, wenn nicht, hätte das sogar gravierende Auswirkungen für Ihre eigene Gesundheit. Ja selbst auf uns trifft das zu, oder sind Sie mehrheitlich der Ansicht, dass Ihre Großeltern und Eltern vielleicht den sinnvollen Umgang mit den so genannten neuen Medien und unserem modernen Verkehrssystemen direkt an Sie vererbt hätten. Nein, Sie müssen es lernen sie zu durchschauen und angemessene Verhaltensweisen zu entwickeln. Ihre Großeltern und Eltern kannten zurzeit als die etwas älteren von Ihnen geboren wurden diese Dinge aus eigener Erfahrung noch nicht. Eltern können ihren Nachkommen nur die Befähigung zu diesen Anpassungsleistungen mehr oder weniger gut vererben und sie müssen plastisch genug sein und bleiben, damit die Nachkommen mit den sich für sie ergebenden Umweltveränderungen schritthalten können. Bedingt zeigen uns das doch die Schildkröten nicht nur in der obigen Studie, sondern auch mit ihrer Farbanpassung an neue Substrate (siehe (Rowe et al. 2014) genauso wie Chamäleons mit ihren Farbanpassungen an ihren Lebensraum und den darin stattfindenden saisonalen Farbwandel im Jahreszyklus. Genetische Befähigung und Sinneswahrnehmung (Farbsehen, visuelle Umweltwahrnehmung) müssen hier zwangsweise als funktionelle Einheit zusammenarbeiten. Mal salopp ausgedrückt: Was für den Naturschutz und das Naturparkmanagement in Afrika die so genannten „Big Five“ sind, sind für das Evolutionsverständnis aus heutiger Sicht im Deutschen „the two G’s“ (Gene & Geist) und zwar auf allen Ebenen belebter Materie, was in letzter Konsequenz auch die abiotische (unbelebte) Materie als Grundlage mit einschließt (siehe auch Kommentare zu Hazard et al. 2010, Wilkinson & Huber 2012, Luiselli et al. 2014). Im Grunde genommen sollten uns diese ergänzenden Erkenntnisse aus dem letzten und dem Anfang dieses Jahrhunderts noch etwas ehrfürchtiger auf das blicken lassen, was uns der Galapagosarchipel lehrt: Es sind Vulkaninseln, die neu, ja fast aus dem Nichts aus dem inneren unserer abiotischen Materie (Lava) entstanden sind und vielleicht auch zukünftig noch weiter entstehen und die von langlebigen Reptilien mit besiedelt werden, die schon Darwin inspiriert haben. Wie uns die Wissenschaft zeigt, hatten die langlebigsten Reptilien einen gemeinsamen Festlandsvorfahren mit der argentinischen Landschildkröte, Chelonoides chilensis (Poulakakis et al. 2012), von dem wohl niemand, der logisch denken kann, glaubt, dass er zum einen schon wusste, welche Lebensraumanpassung oder gar Form er vererben soll, damit die dort heute vorkommenden Arten oder Unterarten diese (dieses Neuland) neuen Lebensräume erfolgreich besiedeln konnten und heute noch besiedeln. Nein, je langlebiger die Individuen einer Spezies sind, desto mehr hängt ihr Überleben wohl davon ab, eine gesteigerte Befähigung zur Plastizität zu vererben, die dann sowohl im Langzeitgeschehen zu morphologischen, physiologischen und auch verhaltensmäßigen Anpassungen (Veränderungen) befähigt und auch führt. Letztendlich ist das auch die notwendige Voraussetzung dafür, dass wir Wildtiere in Terrarien erfolgreich halten können, was ja bekanntlich auch nur bei Arten gut gelingt, die so plastisch sind, dass sie sich diesen veränderten Haltungsbedingungen mehr oder weniger gut anpassen können.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein besinnliches Weihnachtsfest und einen guten Rutsch in ein gesundes 2015 und bleiben Sie plastisch genug, damit Sie sich den hoffentlich interessanten auf Sie zukommenden neuen Aufgaben erfolgreich stellen können.

Literatur

Golubović, A., D. Arsovski, R. Ajtic, L. Tomovic & X. Bonnet (2013): Moving in the real world: tortoises take the plunge to cross steep steps. – Biological Journal of the Linnean Society 108(4): 719-726 oder Abstract-Archiv.

Hazard, L. C., D. R. Shemanski & K. A. Nagy (2010): Nutritional Quality of Natural Foods of Juvenile and Adult Desert Tortoises (Gopherus agassizii): Calcium, Phosphorus, and Magnesium Digestibility. – Journal of Herpetology 44(1): 135-147 oder Abstract-Archiv.

Luiselli, L., M. Capula, R. L. Burke, L. Rugiero & D. Capizzi (2014): Sighting frequency decreases over two decades in three populations of Testudo hermanni from central Italy. – Biodiversity and Conservation 23 (12): 3091-3100 oder Abstract-Archiv.

McCrink-Goode, M. (2014): Pollution: A global threat. – Environment International 68: 162-170 oder Abstract-Archiv.

Poulakakis, N., M. Russello, D. Geist & A. Caccone (2012): Unravelling the peculiarities of island life: vicariance, dispersal and the diversification of the extinct and extant giant Galapagos tortoises. – Molecular Ecology 21(1): 160-173 oder Abstract-Archiv.

Richardson, K. (2013): The evolution of intelligent developmental systems. – S. 127-160 Lerner, R. M. & J. B. Benson (Hrsg.): Embodiment and Epigenesis: Theoretical and methodological Issues in Understanding the Role of Biology within Rational Developmental Systems Part A: Philosophical, Theoretical and Biological Dimensions. – (Elsevier Inc. Academic Press)

Rowe, J. W., B. J. Miller, M. A. Stuart, C. Snyder, J. K. Tucker, D. L. Clark, L. W. Wittle & J. T. Lamer (2014): Substrate color-induced melanization in eight turtle species from four chelonian groups. – Zoology 117(4): 245-252 oder Abstract-Archiv.

Stuart, Y. E, T. S. Campbell, P. A. Hohenlohe, R. G. Reynolds, L. J. Revell & J. B. Losos (2014): Rapid evolution of a native species following invasion by a congener. – Science 346 (6208): 463-466.

Wilkinson, A. & L. Huber (2012): Cold-Blooded Cognition: Reptilian Cognitive Abilities. – S. 129-143 in: Vonk, J. & T. K. Shackelford (Hrsg.): The Oxford Handbook of Comparative Evolutionary Psychology. – Oxford University Press 129-143 oder Abstract-Archiv.

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